Forum Archaeologiae - Zeitschrift für klassische Archäologie 90 / III / 2019

FORSCHUNGSPROJEKT „FRÜHMITTELALTERLICHE BESIEDLUNGSSTRUKTUREN IM SÜDOSTALPENRAUM“

Am 11. Dezember 2018 startete das vom Slowenischen Wissenschaftsfonds ARRS und vom FWF (I-3992-G25) kofinanzierte Forschungsvorhaben mit einer vom Leadpartner [1] einberufenen Kick-Off-Veranstaltung in Ljubljana. Das Ziel des Projekts ist es, eine analytische Zusammenschau der archäologischen Quellen zur Besiedlung im Südostalpenraum während des Frühmittelalters zu erarbeiten.
Ein sehr ähnliches Projektvorhaben, ebenfalls ohne Rücksicht auf moderne nationalstaatliche Grenzen, aber fokussiert auf einen kleineren zeitlichen und geographischen Rahmen, ist vom FWF 2016 abgelehnt worden. Im Herbst 2017 trafen sich die Vorbereitungen zu einer Wiedereinreichung mit dem Impetus der slowenischen Kolleg*innen, denen es letztendlich zu verdanken ist, dass das Vorhaben nun größer angelegt in einem beim slowenischen ARRS durchgeführten lead-agency-Verfahren genehmigt werden konnte [2].
Das Untersuchungsgebiet umfasst nunmehr geographisch definiert die südlich des Alpenhauptkammes (Hohe Tauern – Niedere Tauern – steirisch-niederösterreichische Kalkalpen) liegenden, von den Flüssen Save, Drau, Mur und Raab entwässerten Landschaften des östlichen Alpenraumes, im Wesentlichen also die Steiermark, Slowenien, Kärnten und Osttirol [3]. Vorarbeiten zur Siedlungsarchäologie dieses Raumes liegen forschungsgeschichtlich bedingt regional in sehr unterschiedlicher Intensität und Herangehensweise vor [4]. Der zeitliche Rahmen wird mit der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends nach Christus abgesteckt, um einerseits noch spätantik-völkerwanderungszeitliche Siedlungsmuster des 6. Jahrhunderts und andererseits den ostalpinen Markengürtel ottonischer Zeit nach dem Einschnitt der Ungarnkrise des 10. Jahrhunderts in die raumzeitlichen Analysen miteinbeziehen zu können.
Quellen der Archäologie des Frühmittelalters im Südostalpenraum sind grundsätzlich Gräberfelder, Hortfunde und Siedlungsbefunde. Ein besseres Verständnis dieser Periode ist jedoch vor allem durch den mangelhaften Kenntnisstand zu Siedlungen und deren archäologischer Evidenz stark eingeschränkt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Siedlungsbefunde im Vergleich zu anderen Perioden für das Frühmittelalter spärlich sind, und dass viele Fundstellen vor allem des fortgeschrittenen karolingisch-ottonischen Frühmittelalters eine bis heute nachhaltige Platzkontinuität und damit erschwerte archäologische Nachweisbarkeit aufweisen. Trotzdem hat sich in den letzten zwanzig Jahren die Anzahl bekannter Siedlungsstellen vor allem durch Notgrabungen entlang linearer Großbauprojekte (Autobahnbau in Slowenien, Bau der Südbahnstrecke Donau-Adria durch die Steiermark und Kärnten) deutlich erhöht. Weniger als ein Viertel dieser Neuentdeckungen ist jedoch eingehend analysiert und publiziert.
Der schlechte siedlungsarchäologische Forschungsstand ist also das Hauptproblem der Frühmittelalterforschung im Südostalpenraum. Hier durch synthetische Forschungsansätze Abhilfe zu schaffen, was nunmehr zum ersten Mal durch den Zugriff auf genügend Siedlungsdaten auch möglich geworden ist, stellt das Hauptziel des Projekts dar.
Grundsätzlich werden dazu zwei Ansätze verfolgt, einerseits eine Analyse der Gesamtregion „Südostalpenraum“, die sich auf räumliche und zeitliche Veränderungen im Siedlungswesen konzentriert und andererseits die Untersuchung dreier ausgewählter, jeweils an einem der drei Hauptflüsse liegender Mikroregionen (Abb. 1–3: Bled/Save, Wildon-Leibnitzer Feld/Mur, Ptuj-Dravsko polje/Drau), anhand derer grundlegende, auf die Gesamtregion umlegbare, über die reine archäologische Datenanalyse hinausgehende Fragestellungen sozioökonomischer Natur untersucht werden können. Zu diesen Fragestellungen gehören etwa die Bezugnahme frühslawischer Siedler auf die physische Landschaft, die Siedlungsstrukturen betreffenden Wechselwirkungen zwischen Altbevölkerung und Neuankömmlingen, Subsistenzmodelle, die Entwicklung territorialer Einheiten (z.B. župa, civitas) im Frühmittelalter, deren Bezugnahme oder Rückgriff auf allfällig vorhandene spätantike Strukturen, die Entwicklung des frühmittelalterlichen Fürstentums, oder die Art und Weise des Übergangs frühmittelalterlicher Verwaltungs- und damit Siedlungsstrukturen in das hochmittelalterliche Feudalsystem.

Die Hauptdatenquelle für die Regionalanalyse stellt die seit 30 Jahren von Andrej Pleterski und Mateja Belak eingepflegte, webbasierte ZBIVA-Datenbank dar [5], die alle publizierten frühmittelalterlichen Fundstellen des Untersuchungsgebietes enthält. Nach einheitlichen (und konsensuellen), vor allem auf eine reevaluierte Chronologie abzielenden Klassifikationskriterien wird diese Datenbank im Laufe des Projekts mit Informationen aus unpublizierten Grabungs- und Fundberichten aus Slowenien und Österreich ergänzt.

Der österreichische, am Institut für Archäologie der Universität Graz durchgeführte Teil des Projekts mit vier hochspezialisierten, teilbeschäftigten Post-docs ist in einem ersten Schritt verantwortlich für die Datenaufbringung (hauptsächlich grey-literature-Auswertung, Finder-Kontaktnahmen, Überprüfung mündlicher Hinweise) der im heutigen Österreich liegenden Teile des gesamten Untersuchungsgebietes. So hat etwa ein quellenkritisches Unter-die Lupe-Nehmen der wenigen steirischen Münzfunde des Untersuchungszeitraumes bereits in den ersten Projektwochen erstaunliche Ergebnisse von in der Literatur festgeschriebenen Falschbestimmungen, Fundverdoppelungen und Fehlverortungen erbracht. Zweitens steht die Mikroanalyse der Siedlungskammer Leibnitzer Feld mit den Zentralorten ad Sulpam/Lipnizza und Wildoner Schloßberg (Abb. 2) auf der Agenda; für diese beiden Arbeitsfelder sind Iris Koch, Christoph Gutjahr und Stephan Karl zuständig. Die dritte Grazer Zuständigkeit betrifft die LiDAR-Daten-Interpretation, welche inklusive Methodenentwicklung und dadurch Spitzenknowhow eine Kernkompetenz des slowenischen Lead-Partners darstellt, der jedoch an seiner Forschungsstätte kein eigenes Team nur für das Frühmittelalter abstellen kann. Die slowenische Top-Expertin Edisa Lozić wurde daher in Graz angestellt. Für die archäologische Interpretation der LiDAR-Daten werden die jeweils vorhandenen LAS-Daten (d.h. die Punktwolken der Befliegungen, z.B. 2009 und 2011 für die Steiermark) verwendet. Diese werden durch eine Neuklassifikation meliorisiert, einem ground-checking unterzogen und in der Folge zu Rasterdaten mit einer Auflösung von 0,5m² prozessiert. Diese Grundlage wird, fokussiert auf die drei Mikroregionen, anschließend diversen GIS-Analysen unterzogen (z.B. Einzugsgebiet, Erreichbarkeit und Zugänglichkeit von Siedlungsplätzen, Sichtbarkeit zwischen Siedlungsplätzen und Gräberfeldern, Siedlungsdichte, diachroner Wechsel von Siedlungsplätzen). Für ausgewählte Orte innerhalb der Mikroregionen wird vom slowenischen Partner auch eine retrograde Kulturflächenanalyse versucht. Auf diese Weise können archäologische Daten mit ihrer Naturlandschaft kontextualisiert und ein neuer Blickwinkel auf diese Landschaft vermittelt werden. Statt als Punkte in eine Arbeitskarte werden frühmittelalterliche Fundstellen in ein naturgegebenes, mit Wegenetzen und Feldfluren gestaltetes Gelände eingebettet.

Die Ergebnisse der Mikroregionen werden für andere ausgewählte Siedlungskammern im Untersuchungsgebiet (für die Steiermark z.B. Peggau-Deutschfeistritz) erprobt und im Überblick auf die Gesamtregion übertragen. Als wichtigstes Ergebnis des Projektes ist die erste, ohne Rücksicht auf moderne Grenzen erzeugte analytische Zusammenschau frühmittelalterlichen Siedlungswesens im Südostalpenraum zu nennen. Die Ergebnisse der mikroregionalen Untersuchungen werden zum besseren Verständnis von Neu- und Wiederbesiedlungsprozessen sowie deren Verhältnis zur autochthonen Bevölkerung beitragen. Darüber hinaus werden die über den Stand der Technik hinausgehenden Tools und Algorithmen für GIS und ALS weiterentwickelt. Das Projekt wird 2021 mit einer Schlusskonferenz und der Vorbereitung einer monografischen Abschlusspublikation ausklingen.
Ein zusätzlicher – und vielleicht der wichtigste – Aspekt des bilateralen Forschungsprojekts ist der, dass die erhöhte Glaubwürdigkeit gemeinsam und grenzübergreifend erarbeiteter wissenschaftlicher Ergebnisse helfen kann, alte und bisweilen noch beiderseits der modernen Grenze bestehende Vorurteile aufzulösen, die auf einer in frühmittelalterlichen Besiedlungsveränderungen begründeten Identitätssuche beruhen.

[1] ZRC-SAZU, Archäologisches Institut am Forschungszentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaft und Künste. Projektmitarbeiter des ZRC-SAZU auf slowenischer Seite sind (in alphabetischer Reihenfolge): Mateja Belak, Zvezdana Modrijan, Andrej Pleterski und Jernej Rihter, vom Slowenischen Denkmalamt (ZVKDS, Regionalstelle Maribor) ist Andrej Magdič beteiligt.
[2] Das Proposal ist auf https://www.zrc-sazu.si/en/programi-in-projekti/settlement-of-the-south-eastern-alpine-region-in-the-early-middle-ages (26.02.2019) einsehbar.
[3] Mit zu betrachten sind jedenfalls auch das Südburgenland, das nördlich des Alpenhauptkammes gelegene steirische Ennstal, der Salzburger Lungau und das Südtiroler Pustertal.
[4] Mit stark historischer Ausgangsposition etwa für Kärnten St. Eichert, Frühmittelalterliche Strukturen im Ostalpenraum. Studien zu Geschichte und Archäologie Karantaniens, Aus Forschung und Kunst 39 (Klagenfurt 2012).
[5] https://iza2.zrc-sazu.si/en/zbirka/zbiva#v (27. 02. 2019).

© Benjamin Štular, Manfred Lehner
e-mail: bstular@zrc-sazu.si, manfred.lehner@uni-graz.at

This article should be cited like this: B. Štular – M. Lehner, Forschungsprojekt „Frühmittelalterliche Besiedlungsstrukturen im Südostalpenraum“, Forum Archaeologiae 90/III/2019 (http://farch.net).



HOME