GUIDO LIST, ADOLF HITLER UND CARNUNTUM
Am Abend des 24. Juni 1875 trafen sich fünf junge Männer unter dem Bogen des Carnuntiner Heidentores, nachdem sie am Nachmittag mit einem Boot von Wien nach Deutsch-Altenburg donauabwärts gerudert waren. Ihr Anführer und der Initiator dieser Feier war der 27jährige Guido List (1848-1919) [1], der sich selbst in der Beschreibung dieses nächtlichen Ausfluges als Feueranbeter bezeichnete [2]. Das Datum der Feier war nicht zufällig, sondern ganz bewußt gewählt: ausführlich legt er seinen Freunden die Gründe dar, warum er sie gerade an diesem Tag nach Carnuntum geführt habe. Seiner Überzeugung nach sei nämlich Carnuntum zur Sommersonnenwende des Jahres 375 n. Chr. von einem vereinigten germanischen Heer bestehend aus Quaden und Markomannen zerstört worden, es galt demnach, der 1500. Wiederkehr dieses Ereignisses zu gedenken [3]. Auch die historische Forschung vertrat damals diese Ansicht [4]. Ursache des germanischen Einfalles war die Ermordung des Quadenkönigs Gabinius ein Jahr zuvor durch den dux der Provinz Valeria Marcellianus [5]. Dramatisch schildert List die Zerstörung der römischen Stadt: "die Wut der Quadomarkomannen (brach) das feste Carnuntum, erschlug dessen Besatzung - 30.000 Mann! - in der Sonnwendnacht 375, zerstörte Carnuntum vollständig und drang bis Aquileia vor" [6]. Etliche Jahre später machte er dieses Ereignis sogar zum Inhalt eines Romans [7], nachdem er, wie er selbst schreibt, die Geschichtsfälschung des Ammianus Marcellinus durchschaut hatte, die das Ereignis für die Römer beschönigen sollte. Hatte er zunächst eine wissenschaftliche Abhandlung dazu geplant, schien ihm schließlich die Form des historischen Romans die passendere, um in Anlehnung an die Tätigkeit eines Restaurators die Wahrheit zu rekonstruieren [8]. An gesundem Selbstbewußtsein mangelte es ihm nicht, traute er sich doch, wenn er sich selbst in der Vorrede zu dem Roman hochtrabend als "gelahrter Archäologe" bezeichnete, die notwendigen fachlichen Fähigkeiten zu [9]. In einer weiteren genau vor hundert Jahren erschienenen Schrift beschäftigte sich List nochmals ausführlich mit Carnuntum [10]. In der historischen Einleitung steht wieder die Zerstörung Carnuntums durch das germanische Heer im Mittelpunkt, wobei er sich noch um einiges pathetischer ausdrückt als 1881: "die Thore brachen, die Thürme stürzten und über den Schutt ergoß sich wie ein flammender Lavastrom das Racheheer der Deutschen ... Carnuntum versank in einem Meer von Blut und Feuer" [11].
Warum ist die Zerstörung Carnuntums für List ein so wichtiges Ereignis? Sie bedeutet für ihn, dessen Ideal die in den Germanen sich dokumentierende "arische Herrenrasse" darstellt, das Ende eines "fünfhundertjährigen Ringens" zwischen Römern und Germanen und den Beginn der Völkerwanderung. Durch das "große Völkerthor bei Carnuntum", die "Porta germanica sacra", drangen nun "deutsche Volksheere nach Italien" und warfen schließlich hundert Jahre später mit der Entthronung des letzten römischen Kaisers Romulus Augustulus durch Odoaker "die antike Weltanschauung in Trümmer" [12]. Aus diesem Grund hat Carnuntum eine zentrale Rolle "in der Geschichte der Ostmarkdeutschen" [13]. Carnuntum ist für List das Symbol für das sich auf sich selbst besinnende Germanentum, für das Erkennen der eigenen Macht, die durch die Vereinigung verschiedener Stämme entstand. Das verbrauchte Römertum wurde nach Lists Überzeugung mit dem Sieg bei Carnuntum durch die tapferen und sittenstrengen Germanen, deren Königsburg von ihm nördlich der Donau in Stillfried (Stilifrieda) lokalisiert wurde, abgelöst. So stellten die Überreste des römischen Carnuntum für ihn in erster Linie Zeugnisse einer von den aufstrebenden Germanen überwundenen Weltmacht dar. Bezeichnenderweise war List nie Mitglied des 1885 gegründeten Vereins Carnuntum, der sich der Erforschung der Ruinenstätte aus einer ganz anderen Tradition heraus näherte.
Dies führte schließlich im zweiten Teil des Heftes zu Überlegungen, wie man Carnuntum den Besuchern in einer anschaulichen Form nahebringen könne. Es sollte "aus der geistigen Vorstellungswelt heraustretend sich stofflich verdichten" [14]. Das bedeutet einen dreidimensionalen Wiederaufbau Carnuntums. Dieses Projekt ist als logische Fortsetzung der Präsentation der List'schen Ideologie zu verstehen, die von der "wissenschaftlichen" Abhandlung zunächst zum historischen Roman führte und nun noch einen Schritt weiter zur dreidimensionalen Visualisierung geht, deren Aufgabe es ist, "diesem Volk (der quadisch-markomannischen Ostmarkdeutschen) in Erinnerung zu bringen, was es war, was es ist, und welche Aufgaben es für die Zukunft zu erfüllen hat" [15]. Die ideologische Aufgabe, die die Rekonstruktion zu erfüllen hatte, ist ganz offensichtlich, denn der Wiederaufbau sollte nicht im Sinne einer neuen lediglich "decorativen" Stadtgründung, sondern als ein "geistiger Curort" verstanden werden. Deshalb sollte Carnuntum auch auf dem ursprünglichen Siedlungsplatz wiederaufgebaut werden, "um der magisch-suggestiven Kraft seines einstigen Standortes nicht verlustig zu gehen" [16].
Wie sollte nun das rekonstruierte Carnuntum aussehen? Als Grundlage dienten List die damals bekannten antiken Gebäudekomplexe: das Legionslager, das Militäramphitheater, aber auch schon der durch die Grabungen des Jahres 1898 bekannt gewordene Tempelbezirk auf dem Pfaffenberg. Innerhalb des Lagers waren auf dem zentralen Platz, das "Alte Forum", Tribunal, Auguratorium und Groma geplant, rund herum sollten sich die Verwaltungsbauten erheben. In den dahinter liegenden Straßen wären Fremdenheime, Tabernen und Badeanstalten untergebracht worden [17]. Auf dem Pfaffenberg hätte das Kapitol mit seinen Tempeln wiedererrichtet werden sollen. Um die Bauten sollte sich ein "Wildpark" ausdehnen, eine künstlich angelegte und gepflegte Landschaft im Urzustand, in der Pflanzen der Gegend wachsen sollten. Darin verstreut wären andere antike Gebäude, wie etwa Villen, zu errichten gewesen.
Als Gegenpol dazu hätte aber auch eine germanische "Quadenstadt" gebaut werden sollen, dem List'schen "Stilifrieda" entsprechend, sollte sie auch diesen Namen tragen [18]. Das Zentrum hätte eine germanische Siedlung, befestigt mit Wall, Palisaden und Graben, bilden sollen, in der sich um den Marktplatz der Königshof, ein Heiligtum und die Häuser der "Stadtsassen" gruppierten. Die letzteren hätten wieder als Herbergen, Gasthäuser u.ä. gedient. Auch ein Kaltbad mit allen Einrichtungen für Wassergymnastik und Turnerei wäre zur Verfügung gestanden. Dem römischen Kapitol des Pfaffenberges hätte ein Wotanheiligtum auf der Spitze des Tumulus entsprochen und dem Amphitheater eine "Volksschauspielhalle", in der Darstellungen des Lebens der Römer und Germanen "im Spiegel der Dichtung verklärt" als erzieherisches Mittel für die Besucher hätten aufgeführt werden sollen. Für diese Aufführungen schlug List einige Stücke vor, alles "Werke rein deutschen Denkens", die "unter der Ungunst unserer Theaterverhältnisse leidend, nicht zur Aufführung gelangen". List hätte selbst ein Stück dazu beitragen können [19]. So sollte Carnuntum zum "Bayreuth der Ostmark" [20] werden.
Das Ganze stellte sich List durch entsprechend gekleidete Menschen belebt vor. Die Bewohner von Petronell und Deutsch-Altenburg hätten hier ein reiches Betätigungsfeld vorgefunden. Auf der einen Seite die römische Bevölkerung wie z.B. den "Hof Kaiser Valentinians I., das Proconsulat, die Legio XIII ...", auf der anderen Seite "der Hofstaat des Königs Gabin, einzelne Sippen, Gesandtschaften, der Heerbann ..." [21]. Örtliche Vereine hätten, entsprechend ihrem Vereinsziel, Veranstaltungen ausrichten können: "Turner- und Fechtverbände Schaustellungen in der Arena, Sportclubs mit Wagenrennen, Ruderclubs als Liburnarier oder Fischergilden". An diesem Leben hätten aber auch die Kurgäste teilnehmen können [22], sogar Tagesbesucher sollten miteinbezogen werden.
Abb. 1: Carnuntum. Der Bereich Deutsch-Altenburg und Am Stein in einer idealen Rekonstruktion der antiken Besiedlung. Aquarellierte Zeichnung von Carl Tragau aus der Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts (ÖAI, Dokumentationsarchiv)
Hedauerlicherweise gibt es keine bildlichen Darstellungen, die Lists Vorstellungen in dieser Richtung etwas verdeutlichen könnten. So mag eine Rekonstruktionszeichnung (Abb. 1) aus der Hand Carl Tragaus, der in den neunziger Jahren als Ausgräber in Carnuntum tätig war, als Ersatz dafür dienen. Sie dürfte ungefähr gleichzeitig mit Lists Manuskript entstanden sein und zeigt mit dem Tumulus, der hier allerdings von einem römischen Monument bekrönt wird, und dem Pfaffenberg auch zwei topographische Bereiche, die auch im List'schen Projekt berücksichtigt werden.
In der zeitgenössischen archäologischen Forschung gab es keine Resonanz auf diese von einer extremen Ideologie geprägten Vorstellungen. Nirgends in der Literatur finden sich Hinweise oder Reaktionen darauf.
Während der Feier beim Heidentor im Jahre 1875 hatte List aus acht leeren Weinflaschen ein Hakenkreuz [23] ausgelegt und anschließend mit Rasenziegeln abgedeckt. Am 26. Juni 1911 war wiederum Carnuntum das Ziel eines Ausfluges einer unter der Führung Lists stehenden Gruppe (Abb. 2), die sich aus Mitgliedern der nach ihm benannten Gesellschaft zusammensetzte [24]. Wie er berichtet, glaubte er zwar nicht, das von ihm gelegte Zeichen wiederzufinden, da er wußte, daß in der Zwischenzeit beim Heidentor Ausgrabungen stattgefunden hatten [25], er war aber überrascht, wie sich das Heidentor selbst verändert hatte: "Es (das Heidentor) war um mehr als zwei Meter aus dem Schutte emporgewachsen, indem die Höhe - beziehungsweise Tiefe - der ursprünglichen Bodenfläche durch Wegräumung des Schuttes wiederhergestellt wurde ..." [26].
Abb. 2: Guido List mit Mitgliedern der Guido-von-List-Gesellschaft im Jahr 1911 vor dem Heidentor (nach G. List, Deutsch-Mythologische Landschaftsbilder [Wien 1913]) |
Abb. 3: Guido List im Jahre 1910 im Alter von 62 Jahren (nach G. List, Deutsch-Mythologische Landschaftsbilder [Wien 1913])
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War List 1875 in der Öffentlichkeit noch völlig unbekannt, so hatte sich dies 1911 völlig gewandelt. Seit gut zwanzig Jahren, vor allem aber seit der Jahrhundertwende, war er zu einer der führenden Persönlichkeiten (Abb. 3) in der alldeutschen Bewegung geworden. Seine Schriften, in denen er seine Lehre von der aus dem Norden stammenden "arischen Herrenrasse", ihren Feinden, worunter er die katholische Kirche, die Juden und die Freimaurer verstand [27], und den südlichen Knechten ("Herdenmenschen" oder "Tschandalen") usw. darlegte, waren überall präsent. Sie wurden in den alldeutschen Zeitungen ausführlich kommentiert. Auf diese Weise wurde er der bedeutendste "präfaschistische Esoteriker" [28]. Seine Erkenntnisse verdankte er zu einem Gutteil "Gesichten". Er berichtet, daß er bereits als Vierzehnjähriger bei einem Besuch der Katakomben unter dem Stephansdom seine erste wegweisende Erleuchtung [29] hatte. Weitere Offenbarungen erlebte er während einer zeitweisen Erblindung 1902. Dabei "offenbarte sich ihm die gesamte Esoterik der Germanen" [30]. Ein daraus entstandenes Manuskript wurde von der Akademie der Wissenschaften kommentarlos retourniert. Zu dieser Kränkung kam hinzu, daß die historische Forschung seinen historischen Angelpunkt von der Zerstörung Carnuntums im Jahre 375 immer mehr in Frage zu stellen begann [31]. Mit entsprechendem Sarkasmus reagierte List auf diese "neueste Schrulle unserer ,hochwissenschaftlichen' Geschichtsf - hm! - orschung": "Wirklich hat auch die Neuauflage des ,Führers durch Carnuntum' jener allerneusten ,wissenschaftlichen' Entdeckung volle Rechnung getragen und die Zerstörung Carnuntums durch die Quaden im Jahre 375 - gestrichen. Es wäre zu traurig, wenn es nicht gar so komisch wäre!" [32].
Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen des Romans "Carnuntum" wurde Österreich durch den Anschluß ein Teil Hitler-Deutschlands. Bereits wenige Wochen [33] nach diesem Ereignis veranlaßte der Gauleiter Dr. Hugo Jury die Flüssigmachung von Geldern, mit denen während des Sommers 1938 zwei Probegrabungen im Bereich der Zivilstadt Carnuntum finanziert werden. Die wissenschaftliche Leitung der Arbeiten wurde dem seit seiner Gründung im Jahr 1898 mit Carnuntum eng verbundenen Österreichischen Archäologischen Institut übertragen, Grabungsleiter vor Ort war Erich Swoboda. Die Ergebnisse waren recht vielversprechend. Zahlreiche Mauerzüge und Reste von mit Steinplatten gepflasterten Straßen kamen ans Tageslicht. Im ehemaligen "Spaziergarten" des Schlosses Traun waren sogar zwei Mosaikböden und zahlreiche Bruchstücke figuraler Wandmalereien gefunden worden. Gleichzeitig mit den Grabungen wurde die bereits ziemlich desolate Ruine des ersten Amphitheaters einer Restaurierung unterzogen. Alle diese Unternehmungen sollten der Öffentlichkeit zweierlei signalisieren: zum einen sollte verdeutlicht werden, welche Bedeutung das neue Regime der kulturellen Hinterlassenschaft der Antike beimaß, zum anderen, wie unbürokratisch und rasch auf die diesbezüglichen fachlichen Bedürfnisse reagiert würde im Gegensatz zum politischen System der vorhergegangenen Jahre, dem man eine grobe Vernachlässigung dieser Aufgaben vorwarf. Diese "Sünden der Vergangenheit" wurden in einem eigenen Kapitel des Textteiles einer in Pergament gebundenen Prachtkassette über Carnuntum aufgelistet, die darüber hinaus auch noch 23 Fototafeln sowie die Nachbildung einer Scheibenfibel mit in rotem Email eingelegtem Hakenkreuz enthielt. Sie wurde ebenfalls während der Sommermonate zusammengestellt und in zwanzig Exemplaren ausgefertigt. Die mit einem Geleitwort Jurys versehene Nr. 1 überreichte Reichsminister Rudolf Heß dem Führer am 9.11.1938 mit dem Zweck, Hitlers Unterstützung für die Initiative des Gaus in Carnuntum zu erreichen. Die Antwort erfolgte ziemlich rasch. Hitler "erkannte mit dem Scharfblick des Künstlers ... das gewaltige Problem der Erforschung einer Stätte, an der einst Germanen und Römer nicht nur in heldenhaftem Kampfe ihre Kräfte maßen, sondern auch in friedlichem Wettstreit die Werte ihres schöpferischen Geistes einander nahebrachten" [34] und erteilte den in der Gauverwaltung mit großer Genugtuung aufgenommenen Befehl: "Carnuntum wird ausgegraben". Noch im November teilte der für Kultur zuständige Landesrat, Dr. Leopold Pindur, dem Grabungsleiter mit, daß "vom Führer und Reichskanzler Adolf Hitler dem Gau Niederdonau der Betrag von 2 Millionen Reichsmark zur Verfügung gestellt worden ist, welchem Betrag ein weiterer im Ausmaß von 3 Millionen Reichsmark in den anschließenden Jahren folgen soll" [35]. Damit hätte das Unternehmen Carnuntum an finanziellen Ressourcen die seit 1936 laufende andere Führer-Grabung in Olympia [36] um ein Vielfaches übertroffen.
Es ist auffallend, daß Hitler, der die römischen Ruinen in Petronell und Deutsch-Altenburg aus eigener Anschauung gar nicht kannte, in dieser Angelegenheit so rasch eine positive Entscheidung traf. Es fällt schwer zu glauben, daß dies allein das Verdienst der von Heß überreichten Kassette und der darin enthaltenen Petition Jurys war. Die bislang zugänglichen Quellen ließen aber keinen anderen Schluß zu. Brigitte Hamann berichtet in ihrem bereits zitierten Werk über Hitlers Jugend in Wien in Zusammenhang mit Guido List etliche Fakten, die diese Entscheidung Hitlers meiner Ansicht nach in einem neuen Licht erscheinen lassen. Es ist ganz offensichtlich, daß List mit seinen Lehren einen großen Einfluß auf den jungen Hitler ausgeübt hat, deren Wirkung sich noch Jahre danach nachweisen läßt. So etwa, wenn Hitler 1920 in München die Bedeutung des Hakenkreuzes erklärt oder wenn er sich in "Mein Kampf" zu dessen "arischer Mission" bekennt, als deren Symbol das Hakenkreuz zu verstehen sei [37]. Hamann zitiert noch eine Reihe anderer bis in die dreißiger Jahre reichende Aussagen Hitlers, in denen die Thesen Lists eindeutig nachwirken [38]. Weiters kann sie auf Grund von Recherchen Wilfried Daims nachweisen, daß sich etliche Bücher Lists in Hitlers Bibliothek befanden [39]. Für unsere Betrachtung ist wichtig, daß sich darunter auch die 1881 erschienene erste Ausgabe der Deutsch-Mythologischen Landschaftsbilder befunden hat, worin List über die 1875 stattgefundene Sonnwendfeier beim Heidentor berichtet. Bei der von Daim namhaft gemachten Zeitzeugin handelt es sich um die in Budapest geborene, in Wien aufgewachsene und anschließend in München als Buchhändlerin tätige Elsa Schmidt-Falk, die ebenfalls Anhängerin Lists war. In Gesprächen mit ihr habe Hitler bemerkt, wenn "Österreich einmal zu Deutschland gehöre, werde er jenes Hakenkreuz ausgraben lassen, das List und seine Freunde in einer weinseligen Johannisnacht aus leeren Weinflaschen unter dem römischen Heidentor bei Carnuntum zusammengelegt und unter einem Rasenziegel begraben hatten" [40]. Nicht gekannt hingegen hat er die spätere erweiterte Ausgabe, in der List über den neuerlichen Besuch beim Heidentor im Jahr 1911 berichtet und auch die in der Zwischenzeit erfolgten Ausgrabungen erwähnt. Darüber hinaus war ihm auch der 1900 in einem Büchlein publizierte Traum zum Wiederaufbau Carnuntums bekannt, den er verwirklichen wollte [41].
Es ist demnach ganz offensichtlich, daß Carnuntum durch die Schriften Lists für Hitler zu einem festen Begriff geworden war, der sich seinem bekannt guten Gedächtnis eingeprägt hat. Es wäre daher nicht weiter verwunderlich, wenn ihm die Vorlage der Carnuntum-Kassette die Schriften Lists wieder in Erinnerung gerufen hätte. So drängt sich mir die Vermutung auf, nicht der gelehrte Text der Carnuntum-Kassette, nicht die beigelegten Fotos, nicht die Hinweise auf die Beziehungen zwischen Römern und Germanen und die Achse Rom-Berlin im Begleitschreiben Jurys, die im übrigen später von der Reichskanzlei nicht besonders goutiert wurden [42], auch nicht der ihm von Kreuz unterstellte "Scharfblick" haben zu dem spontanen Entschluß Hitlers geführt, die Grabungen in Carnuntum so großzügig zu unterstützen, sondern ganz banal die dadurch wieder geweckte dankbare Erinnerung an jenen Mann, der seine geistige Entwicklung in Wien so wesentlich beeinflußt und damit einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu seinem späteren Aufstieg geleistet hat.
[1] J. Balzli, Guido von List. Der Wiederentdecker uralter arischer Weisheit (Leipzig 1917); B. Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators (Taschenbuchausgabe München 1998) 293 ff.
[2] G. List, Deutsch-Mythologische Landschaftsbilder2 (Wien 1913) 562 ff.
[3] List a.O. 579 ff.
[4] E. von Sacken, Die Stadt Carnuntum, ihre Geschichte, Überreste und die an ihrer Stelle stehenden Baudenkmäler des Mittelalters, SBWien 9 (1852) 678; F. Kenner, Mitteilungen des Altertumsvereines zu Wien 10, 1869, 188.
[5] Amm. Marc. XIX 6.
[6] List a.O. 581.
[7] G. List, Carnuntum. Historischer Roman aus dem vierten Jahrhundert n. Chr. (Berlin 1888).
[8] In der Vorrede zum Roman, List a.O. (Anm. 7) IX. Als Vorbild führt er Viktor von Scheffels "Ekkehard" an. Vgl. dazu Ch. Zintzen, Von Pompeji nach Troja (Wien 1998) 236.
[9] List a.O. (Anm. 7) IX.
[10] G. List, Der Wiederaufbau von Carnuntum (Wien 1900).
[11] List a.O. (Anm. 10) 11.
[12] List a.O. (Anm. 10) 2.
[13] List a.O. (Anm. 10) 1.
[14] List a.O. (Anm. 10) 16.
[15] List a.O. (Anm. 10) 22.
[16] Alle Zitate List a.O. (Anm. 10) 17.
[17] "... in streng antiker Anlage und Pracht, mit allen Neuerungen der Jetztzeit, diese aber streng dem antiken Stile angepaßt ...". List a.O. (Anm. 10) 17.
[18] List a.O. (Anm. 10) 19 ff.
[19] List a.O. (Anm. 10) 29: König Vannius. Ein deutsches Königsdrama, 1899.
[20] List a.O. (Anm. 10) 16.
[21] List a.O. (Anm. 10) 22.
[22] "Von den alten Einrichtungen Carnuntums möchten besonders die ,Bäder', womöglich die alten Anlagen erneuert und gebrauchsfähig gemacht, wiedererstehen. Diese würden nicht minder einen Anziehungspunkt für Einheimische und Fremde bilden, besonders dann, wenn die alten Heilquellen dazu benützt würden." List a.O. (Anm. 10) 25.
[23] Das Hakenkreuz wurde für ihn später "das höchstheilige Geheimzeichen des Armanentums". Es ist das Zeichen des "Unbesiegbaren", des "Starken von Oben", des Retters der Germanen. Hamann a.O. (Anm. 1) 298 ff. Lists 1908 erschienenes Buch "Das Geheimnis der Runen" hat Hitler stark beeinflußt. Nach seiner Lektüre entschied er sich für das Hakenkreuz als Symbol für das deutsche Volk.
[24] List a.O. (Anm. 2) 598. List hatte sich in der Zwischenzeit das Adelsprädikat zugelegt, um damit die Zugehörigkeit zur "arischen Herrenrasse" zu betonen, Hamann a.O. (Anm. 1) 293. Die nach ihm benannte Gesellschaft wurde 1907 gegründet und hatte ihren Sitz im sechsten Wiener Gemeindebezirk in der Webgasse 25, nicht weit von Hitlers erster Wiener Wohnung. Ihre wesentlichste Aufgabe bestand darin, Lists Werke zum Druck zu bringen, unter ihren Mitgliedern waren daher zahlreiche finanzkräftige Personen wie etwa der Münchner Großindustrielle Oskar Wannieck. Aber auch der Wiener Bürgermeister Karl Lueger wird von Hamann a.O. (Anm. 1) 294 als Mitglied überliefert.
[25] Seit diesen im Jahre 1891 durchgeführten Grabungen waren bereits wieder zwanzig Jahre vergangen, J. Dell, AEM 16, 1893, 156 ff. Möglicherweise erinnerte sich List auch nur an die Arbeiten im Rahmen der Neurestaurierung des Jahres 1907.
[26] List a.O. (Anm. 2) 598.
[27] Hamann a.O. (Anm. 1) 295 ff.
[28] Zintzen a.O. (Anm. 8) 236.
[29] List a.O. (Anm. 2) 592 f.
[30] Hamann a.O. (Anm. 1) 294.
[31] So z.B. W. Kubitschek - S. Frankfurter, Führer durch Carnuntum (Wien 1904) 22, wo offen gelassen wird, ob der Niedergang Carnuntums allmählich erfolgte oder die Folge einer militärischen Katastrophe war.
[32] List a.O. (Anm. 2) 597. Dennoch hat sich diese Ansicht noch lange gehalten. Sie findet sich noch in den Zeitungsmeldungen über die 1938 durchgeführten Ausgrabungen in Carnuntum (z.B. "Völkischer Beobachter" vom 8.8.1938), obwohl, wenn man dem "Neuen Wiener Tagblatt" vom 18.11. dieses Jahres Glauben schenken darf, gerade diese Grabungen keine Bestätigung der alten Theorie geliefert haben: "Die ursprüngliche Annahme, daß (die Zerstörung) durch Feuer geschehen sei, haben die Grabungen widerlegt, da an keinem der Gebäudereste Brandspuren zu beobachten waren. Es kann überhaupt von einer gewaltsamen Zerstörung keine Rede sein ...". Vereinzelt findet sich diese Theorie auch heute noch, vgl. z.B. P. Pleyel, Das römische Österreich. Fundstätten und Museen2 (Wien 1994) 476 zum Jahr 375: "Die Quaden zerstören Carnuntum."
[33] E. Rudolf, Pompeji vor den Toren Wiens. Die ,Führergrabung' von Carnuntum, Hephaistos 13, 1995, 187 ff.; M. Kandler, Unter fremden Namen. Die Jahre 1938-1945, in: 100 Jahre Österreichiches Archäologisches Institut 1898-1998, SoschrÖAI 31 (1998) 53 ff.
[34] F. Kreuz, Rätsel um Carnuntum (1939) 59.
[35] Rudolf a.O. 198.
[36] K. Junker, Das Archäologische Institut des Deutschen Reiches zwischen Forschung und Politik. Die Jahre 1929 bis 1945 (Mainz 1997) 70 f.
[37] Hamann a.O. (Anm. 1) 299 f.
[38] Hamann a.O. (Anm. 1) 301.
[39] Hamann a.O. (Anm. 1) 302.
[40] Hamann a.O. (Anm. 1) 303.
[41] Hamann a.O. (Anm. 1) 302.
[42] Bezugnehmend auf die entsprechenden Abschnitte in dem von Kreuz veröffentlichten Buch: "Getadelt wird besonders ... die Plumpheit, mit der immer wieder versucht wird, die römisch-germanischen Beziehungen mit der Achse Berlin-Rom zu vergleichen", vgl. Rudolf a.O. 208 Anm. 52.
© Manfred Kandler, Wien
e-mail: mkandler@oeai.univie.ac.at
This article will be quoted by M. Kandler, Guido List, Adolf Hitler und Carnuntum, in: Altmodische Archäologie. Festschrift für Friedrich Brein, Forum Archaeologiae 14/III/2000 (http://farch.net).